Titel
Samt und Stahl. Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen


Herausgeber
Kohlrausch, Martin
Erschienen
Berlin 2006: Landt Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfrid Halder, Dresden

Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser, erfreut sich auch fast 90 Jahre nach seiner Abdankung eines ungebrochenen Interesses, das weit über die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit ihm hinausreicht. Dies zeigt sich etwa daran, dass sich in den letzten Jahren die Zahl der biografischen Arbeiten über ihn noch vermehrt hat; manche erschienen bezeichnenderweise im Taschenbuchformat in hoher Auflage.1 Der vorliegende Band darf mithin darauf rechnen, nicht nur von den Experten der Historikerzunft wahrgenommen und rezipiert zu werden. Er leistet vor allem eines: Er zeigt, dass die politische Rolle Wilhelms II. bereits unter seinen Zeitgenossen nicht minder kontrovers bewertet wurde als dies bei den interessierten Nachlebenden der Fall ist. Am letzten Kaiser schieden sich die Geister und daran hat sich bis heute nichts geändert. „Über Wilhelm II. ist schlechterdings bereits alles gesagt worden. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, über den man so widersprechende Urteile gefällt hätte.“ Diese Feststellung traf, wohlgemerkt, ein Beobachter im Jahre – 1911.2 Und da hatte der Kaiser noch weitere 30 Lebensjahre, darunter die politisch prekärsten, vor sich.

Einen Ausschnitt der zeitgenössischen Diskussion macht nun der von Martin Kohlrausch besorgte Band in exemplarischer Weise zugänglich. Der Herausgeber ist durch seine kurz zuvor erschienene einschlägige Dissertation ausgewiesen.3 Der Band versammelt insgesamt 20 Texte über Wilhelm II., denen eine kurze Einleitung des Herausgebers (S. 7-32) vorangestellt ist. Dort erläutert dieser seine Intention: „Wer die polemischen Verurteilungen nicht glauben, aber auch keine unreflektierte Rehabilitierung Wilhelms II. betreiben will, gerät leicht auf verlorenen Posten. Dann liegt es nahe, Quellen zu Rate zu ziehen, die noch den zeitgenössischen Problemkreis dokumentieren.“ (S. 9) In Anbetracht der damit in Frage kommenden kaum überschaubaren Zahl der entsprechenden Äußerungen, hat sich selbstverständlich das Problem der Auswahl gestellt. Voraussetzung zur Aufnahme in den Band war laut Einleitung zunächst, dass die Texte noch zu Lebzeiten Wilhelms II. entstanden sein sollten. Sodann sollten „vorzugsweise“ Texte berücksichtigt werden, „die weitgehend vergessen oder schwer greifbar sind.“ (S. 11) Daher seien z. B. Äußerungen von Emil Ludwig oder Maximilian Harden ausgeklammert worden. Nicht ganz einleuchtend ist vor diesem Hintergrund allerdings, warum dann ein Auszug aus dem dritten Band von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ Eingang gefunden hat (S. 57-81), denn hier kann wohl kaum von weitgehend vergessen oder schwer greifbar die Rede sein. Und auch Friedrich Naumann (S. 83-105), Ludwig Thoma (S. 123-149), Theodor Wolff (S. 249-260) sowie Walther Rathenau (S. 261-285) dürften hinsichtlich ihrer anhaltenden Prominenz hinter Ludwig und Harden kaum zurückstehen. Zum Teil existieren von ihnen moderne Werkausgaben, und Rathenaus Betrachtung „Der Kaiser“ aus dem Jahr 1919, von der in den vier folgenden Jahren 56 weitere Auflagen erschienen, bevor sie 1929 in dessen Gesammelten Werken erschien, ist auch nicht gerade schwer zu beschaffen. Das genannte Kriterium mag man also allenfalls für die anderen hier versammelten Texte gelten lassen, wobei zumindest den Historiker/innen unter den Leser/innen natürlich Karl Lamprecht (S. 221-247), Walter Goetz (S. 305-313), Egon Friedell (S. 315-325) und Percy Ernst Schramm (S. 395-411) keine Unbekannten sind. Unter „weitgehend vergessen“ dürften indessen tatsächlich Georg Hinzpeter (S. 41-55), August Stein (S. 107-121), Rudolf Borchardt (S. 151-181), Paul Busching (S. 183-201), Ernst Horneffer (S. 203-219), Hans Blüher (S. 347-383) sowie wohl auch Reinhold Schneider (S. 385-393) zu rubrizieren sein.

Im Falle Schneiders ist die Textauswahl insofern fragwürdig, als der Herausgeber ja als Bedingung festgelegt hat, die Texte müssten zu Lebzeiten Wilhelms II. geschrieben sein. Schneiders – unbedingt lesenswertes – Erinnerungsbuch „Verhüllter Tag“, aus dem der hier aufgenommene Abschnitt stammt, wurde jedoch zuerst 1954 publiziert (nicht 1959 wie in der Editorischen Notiz auf S. 442 angegeben). Der selbst gesetzten Vorgabe zufolge wäre aber der entsprechende Abschnitt aus Schneiders Tagebuch, niedergeschrieben unmittelbar nach seinem Besuch in Doorn im April 1935, am Platze gewesen; der Wortlaut ist keineswegs identisch mit „Verhüllter Tag“.4 Die Interpreten nicht-deutscher Herkunft werden neben Friedell durch Winston Churchill (S. 327-346) und Jean-Paul Sartre (S. 413-438) repräsentiert. Auffällig ist, dass die Mehrzahl der ausgewählten Autoren dem (links-)liberalen Spektrum zuzurechnen ist, während kein Sozialdemokrat vertreten ist. Die stärkste politische Kraft des (späten) Kaiserreichs bleibt hier also ohne Stimme.

Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Textedition; der Band wird ausdrücklich als Anthologie bezeichnet (S. 11). So verfügt lediglich die Einleitung des Herausgebers über einen Anmerkungsapparat. Diese dient einer knappen Einordnung der Person Wilhelms II. sowie einer Skizzierung des neueren Forschungsstandes. Dass dabei der zweite Band von John Röhls monumentaler Wilhelm-Biografie 5 als das „ohne Zweifel wichtigste Werk unter den neueren Veröffentlichungen“ qualifiziert wird (S. 18), mag noch angehen, dass aber die dezidierte Gegenposition eines so herausragenden Kenners wie Wolfgang J. Mommsen es war 6, einfach unerwähnt bleibt (wie übrigens in Kohlrauschs Dissertation auch), stimmt bedenklich. Ärgerlich sind auch die handwerklichen Unachtsamkeiten: Nicht immer wird in den Fußnoten bei der zweiten Nennung eines Titels ein Kurztitel verwendet, für eine Arbeit von Isabel v. Hull wird hingegen nur der Kurztitel angeführt (S. 31, Anm. 8), wobei durch „a. a. O.“ auch noch auf den falschen Sammelband von Röhl verwiesen wird. Bei insgesamt 28 Anmerkungen dürfte der Überblick eigentlich nicht verloren gehen.

Den einzelnen Textbeiträgen ist eine „Vorbemerkung“ des Herausgebers vorangestellt, die in der Hauptsache der Einordnung des jeweiligen Autors dient. Da hier auf Anmerkungen verzichtet wurde, ist eine weiter gehende Orientierung der Leser/innen nicht ohne Weiteres möglich. Ein Namensregister am Ende des Bandes (S. 444-463) erleichtert zwar die Kontextualisierung der genannten Personen, unerfindlich bleibt allerdings, nach welchem Prinzip bei einigen der Genannten auf weiterführende Literatur verwiesen wird, bei der großen Mehrzahl aber nicht. Und dass der Schlieffen-Plan „zur Verhinderung des Zwei-Fronten-Krieges“ (S. 460) dienen sollte, ist schlichtweg falsch.

Der mit einem Bildteil versehene und auch im ästhetischen Sinne schöne Band ist, das sei abschließend hervorgehoben, zweifellos für jeden Interessierten lesenswert. Etwa ein satirisches Kabinettstück wie Ludwig Thomas Interpretation der Kaiser-Reden liest man gewiss auch heute noch mit Vergnügen. Die angeführten Mängel lassen das Buch jedoch weniger für den wissenschaftlichen Nutzerkreis geeignet erscheinen, es handelt sich wohl eher um ein „historisches Lesebuch“ für einen breiten, nicht unbedingt wissenschaftlich interessierten Rezipientenkreis.

Anmerkungen
1 Jüngstes Beispiel für die auf einen breiteren Leserkreis ausgerichteten Arbeiten ist Krockow, Christian Graf von, Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, Berlin 2002.
2 Zit. n.: Hartau, Friedrich, Wilhelm II., 8. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2003, S. 95.
3 Vgl. Kohlrausch, Martin, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie (Elitenwandel in der Moderne 7), Berlin 2005.
4 Vgl. Schneider, Reinhold, Tagebuch 1930-1935. Redaktion und Nachwort Josef Rast, Frankfurt am Main 1983, S. 879-889.
5 Vgl. Röhl, John C. G., Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie, 1888-1900, München 2001.
6 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten, Berlin 2005.